Prof. Alexander Graser leistete seinen Beitrag zur Ringvorlesung „Migration und gesellschaftlicher Wandel“. Der Vortrag zeigte anhand konkreter Geschichten, dass wir unseren eigenen Rechtsstaat riskieren, wenn wir keinen konsequenten Umgang mit Geflohenen finden und sie damit zu Bürgern zweiter Klasse machen.
Text und Titelbild von Bastian Winter
Man stelle sich vor: Eine große prachtvolle Yacht segelt über das Meer. Auf dem Deck liegen Menschen in Liegestühlen, unter Deck arbeiten andere fleißig in Küche und Maschinenraum. In der Ferne taucht ein kleines Boot auf, das schon deutlich bessere Zeiten gesehen hat. Gerade noch so kann es sich, völlig überladen mit Menschen, über Wasser halten. Als es näher kommt, sieht man das Elend der Passagiere. Sie sehen müde und kränklich aus.
Mit einem Gleichnis begann Prof. Dr. Alexander Graser am vergangenen Montag seinen Beitrag zur Ringvorlesung unter dem Titel „Einwohner zweiter Klasse? Sozial- und Rechtsstaat in der ‚Flüchtlingskrise'“ im Hörsaal H26 an der Universität Regensburg. Die Vortragsreihe unter Leitung von Prof. Dr. Ulf Brunnbauer verfolgt einen interdisziplinären Ansatz mit Vortragenden aus allen Fachrichtungen. Der gemeinsame Horizont ist die Frage, was Migration mit Menschen und Gesellschaften anstellt – und was aus der Forschung an Erkenntnissen für aktuelle Migrationsdebatten gewonnen werden kann.
Was schulden wir den anderen?
Zurück zum Gleichnis vom Anfang:
Die Menschen an Bord der Yacht fragen sich, was sie mit den armen Seelen auf dem sinkenden Boot machen sollen. Sollen sie sie retten oder nicht? Wenn ja, wie soll mit den neuen Passagieren umgegangen werden? Sollen sie nur unter Deck bleiben oder dürfen sie mithelfen und vielleicht sogar eines Tages das Steuer übernehmen?
Die andauernde Diskussion kulminiert in der Frage: Was schulden wir den Anderen?
Diese Frage stellt sich nicht nur im grenzüberschreitenden Verkehr, auch innerhalb der Staatsgrenzen muss diese Frage geklärt werden. In Deutschland sei es die Aufgabe des Rechts- und Sozialstaats diese Frage zu beantworten und dann die gefundene „Antwort“ durch Reformen aktuell zu halten, so Graser.
So ist in Art. 3 des Grundgesetzes die Gleichheit aller Menschen formalisiert festgeschrieben: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“, heißt es dort in Absatz 1. Doch reicht diese rein formelle Gleichheit nicht, sie muss auch praktisch umsetzbar sein. Dies sei vor allem Aufgabe des Sozialstaats, der anhand von Kriterien wie Bedürftigkeit und Leistungsfähigkeit eine relative Gleichheit zwischen den Menschen herstellen soll. Damit stabilisiert er die Gesellschaft.
Doch was passiert, wenn auf den Staat eine unbekannte Zahl an Bedürftigen zukommt?
Das Schiff gerät ins Wanken
Durch die zunehmende Zahl an Zuwanderern wird das System einem Stresstest unterzogen und zeigt so seine Schwächen. Dies zeigte Prof. Graser anhand dreier konkreter – und realer – Geschichten.
Den Anfang machte die Geschichte einer 14-jährigen Somalierin. Nachdem die radikalislamische al-Shabaab-Miliz von ihrem Vater forderte, das Mädchen zu übergeben und dieser sich weigerte, wurde der Vater enthauptet. Das gleiche Schicksal ereilte auch ihre Mutter und ihren Bruder, als sie sich weigerten, das Mädchen der Miliz zu überlassen. Nachdem sie sich mit ihren beiden jüngeren Geschwistern zu ihrem Onkel retten konnte, riet ihr dieser nach Europa zu fliehen. Die 3000 $, die er dafür auftreiben konnte, reichten aber nur, um den Schlepper für das Mädchen zu zahlen. Die Geschwister blieben zurück, unversorgt und allein auf den Straßen von Mogadischu.
Anders als in der öffentlichen Debatte üblich ging es Prof. Graser bei diesem Beispiel nicht darum, die ausbeuterische Praxis der Schlepper zu schildern. Vielmehr lenkte er das Augenmerk auf die europäische Grenzpolitik und gab zu bedenken, dass 3000 $ sicher auch für drei Flüge nach Europa gereicht hätten. Aber ohne Visum sei Flüchtlingen diese Option verwehrt.
Gleiches gilt andernorts: Wer sich nachts von einem Schlepper in einem wackligen Kahn von der türkischen Küste nach Lesbos bringen lässt und dabei sein Leben riskiert, zahlt dafür mehr als tausend Euro; eine Fährfahrt von Izmir nach Lesbos gäbe es dagegen schon für gut zehn. Die Verantwortung für die vielen Opfer auf dem Weg nach Europa allein den Schlepperbanden zuzuschreiben, blende den Beitrag Europas aus.
Insbesondere verwies Prof. Graser auch auf die Situation in den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla in Marokko. Viele Menschen versuchen dort auf europäischen Boden zu gelangen. Der Grenzzaun hindert sie für gewöhnlich daran – und wenn dieser allein nicht reicht, dann die Grenzbeamten. Diese Situation war auch schon Thema bei der Eröffnungsveranstaltung der RLCR im vergangenen Jahr, als Carsten Gericke vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) hierüber referierte. Das ECCHR hat bereits mehrfach die Praktik solcher sog. „Pushbacks“ kritisiert, bei der die Fliehenden mit Gewalt von der europäischen Grenze ferngehalten werden. Es betreibt gegenwärtig ein Verfahren hiergegen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Graser sprach in diesem Zusammenhang noch ein anderes Thema an. Es gäbe eine juristische Diskussion, wo in den Exklaven spanisches – und damit europäisches – Territorium beginne: Reicht es schon, wenn der Grenzzaun über das Wasser umschwommen wird, oder muss der Flüchtling tatsächlich erst einen Fuß auf den Strand gesetzt haben? Diese Unterscheidung ist deshalb relevant, weil Geflohene, sobald sie auf europäischem Boden sind, (eigentlich) ein Recht auf ein faires Asylverfahren haben. „Dass wir uns fragen, ob Europa 15 Meter weiter vorne oder hinten beginnt – das finde ich grotesk. Entweder wir meinen es ernst mit dem Asylrecht oder nicht“, kritisierte Graser.
„Dass wir uns fragen, ob Europa 15 Meter weiter vorne oder hinten beginnt – das finde ich grotesk.“
– Prof. Graser
Abgesoffene Behörden
Die zweite Geschichte handelte von einem Eritreer. Als Dr. Frank-Jürgen Weise im September 2015 das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (kurz: BAMF) übernahm, versprach er, die Effizienz der Asylantragsbearbeitung zu steigern.
Dementsprechend konzentrierte man sich offenbar zunächst auf die „einfachen Fälle“. Dazu würden auch Fälle von Eritreern gehören, da sie eine Anerkennungsquote von 95% hätten, so Graser. Zur Beschleunigung wurden die Anhörungen von Eritreern damals schriftlich durchgeführt und Formulare mit einschlägigen Fragen verschickt, die ausgefüllt und zurückgeschickt werden sollten. Trotzdem sei auch in diesen Fällen keine Beschleunigung erreicht worden. „Bis heute haben 12 von 14 mir bekannter Betroffener keine Antwort vom BAMF erhalten“, berichtete Graser.
Nicht nur, dass diese Praktik offenbar auch keine Besserung bringt, sie lähmt sie zudem andere Behörden und Einrichtungen. So berichtete Richterin Beate Schabert-Zeidler vor zwei Wochen bei ihrem Vortrag in der RLCR davon, dass die Verwaltungsgerichte mittels ihrer Geschäftsverteilung versuchen würden, Kompetenzgruppen zu bilden und alle Fälle aus einem Land an bestimmte Richter zu vergeben. Logischerweise sind diese dann aber völlig überlastet, wenn das BAMF die Länder in Wellen abarbeitet und plötzlich viele Fälle auf einmal bei Gericht ankommen. Natürlich sei aber auch das BAMF selbst völlig überfordert, angesichts der großen Zahl an Anträgen.
„Die Frage ist nicht ‚Schaffen wir das’ sondern ‚Wie können wir es besser schaffen?’“
– Prof. Graser
So kann es passieren, dass die hierher Geflohenen nach zwei Jahren noch nicht einmal einen Termin zur Anhörung bekommen haben. Einzige Möglichkeit das Verfahren zu beschleunigen ist die sog. „Untätigkeitsklage“. Durch diese soll die zuständige Behörde verpflichtet werden, sich der Sache endlich anzunehmen. „Doch hier gibt es zwei Probleme“, erläuterte Prof. Graser. Zum einen könne sich kaum ein Flüchtling einen Anwalt leisten. Die Kosten eines Rechtsbeistands sind in den Asylbewerberleistungen nicht vorgesehen. So müssten sie sich das Geld buchstäblich vom Mund absparen. „Mehr als vielleicht 40 Euro monatlich können Flüchtlinge beim besten Willen nicht sparen, und wenn sie diesen Betrag regelmäßig zur Seite legen, können sie sich ein erstes Beratungsgespräch erst nach fünf Monaten leisten“, so Graser.
Zum anderen gäbe es selbst bei einer gewonnenen Klage keine effektive Möglichkeit das Urteil gegen den Staat selbst zu vollstrecken.
Der Rechtsstaat am Ende der Planke
So kommt es zu – wie es Prof. Graser nennt – „systematischen Rechtsbrüchen“. Als Beispiel führt er die Geschichte eines jungen Senegalesen ins Feld. Der junge Mann floh vor zwei Jahren aus dem westafrikanischen Staat und arbeitete in Deutschland in einem Handwerksbetrieb, während er immer noch auf eine Entscheidung im Asylverfahren wartet.
Der Senegal gilt seit 1995 als sogenanntes „sicheres Herkunftsland“. Als sichere Herkunftsstaaten gelten Länder, von denen der Gesetzgeber annimmt, eine politische Verfolgung finde dort nicht statt. Asylanträge von Menschen aus als diesen Ländern werden in der Regel abgelehnt, sofern sie nicht beweisen können, dass gerade sie in ihrem Heimatland nicht sicher sind.
Diesen Beweis zu führen ist aber rechtlich und tatsächlich schwierig. Einen Anwalt zur Asylanhörung mitzubringen wird systematisch verhindert: Dazu wird dem Betroffenen ein Termin zur Anhörung morgens um 8 Uhr zugeteilt. Gleichzeitig werden zu diesem Termin aber noch 100 weitere Personen geladen. Wann man aufgerufen wird kann morgens keiner wissen – und einen Anwalt für einen ganzen Tag zu bezahlen ist selbstverständlich undenkbar, wenn man sich schon kein Beratungsgespräch leisten kann. Andererseits wird von den Beamten aber auch die Anwesenheit von freiwilligen Beiständen in der Anhörung eher selten toleriert – obwohl das Recht auf einen Beistand gesetzlich verankert ist (§14 Abs. 4 VwVfG).
Gleichzeitig werden Asylbewerber aus sicheren Herkunftsländern gezielt von Integrationsmöglichkeiten ferngehalten. Der sog. „Hermann-Erlass“ – nach dem bayerischen Innenminister benannt – verpflichtet die bayerischen Behörden beispielsweise, Arbeitserlaubnisse für Antragsteller aus sicheren Ländern nicht auszustellen bzw. nicht zu verlängern. Für Asylbewerber wie den jungen Senegalesen bedeutet das, dass sie dann nicht mehr arbeiten dürfen Alles was sie dann noch dürfen, ist, in ihrer Unterkunft zu sitzen und zu warten – zu warten auf die Ladung zur Anhörung beim BAMF, was Jahre dauern kann.
Dabei verstoße dieser Erlass klar gegen europäisches Recht, so Graser. In Art. 15 der Aufnahme-Richtlinie aus dem Jahr 2013 heißt es: „(1) Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass der Antragsteller spätestens neun Monate nach der Stellung des Antrags auf internationalen Schutz Zugang zum Arbeitsmarkt erhält, sofern die zuständige Behörde noch keine erstinstanzliche Entscheidung erlassen hat und diese Verzögerung nicht dem Antragsteller zur Last gelegt werden kann. […]“ Dennoch beabsichtigt die bayerische Staatsregierung kein Abweichen von dieser Regel, denn das wäre politisch nicht opportun. Offenbar lässt sich Härte gegenüber Flüchtlingen gegenwärtig öffentlich besser verkaufen, als europäisches Recht konsequent umzusetzen.
Der Blick unter Deck
Doch Prof. Graser wolle nicht nur kritisieren, er verstehe auch die Seite der Behörden im Asylverfahren. Das BAMF zum Beispiel stehe unter einem Erwartungsdruck, auch und gerade seitens der Politik, dem es unmöglich gerecht werden könne. So hat Behördenleiter Weise kürzlich angekündigt, dass die Überhänge bis 2017 abgearbeitet würden. „Ein Schelm, wer da ans Wahljahr denkt“, wie Graser augenzwinkernd anmerkte.
Dementsprechend ist die Behörde enorm gewachsen: Ihr Personal wurde binnen zwei Jahren von 2000 auf demnächst 8000 MitarbeiterInnen vervierfacht. Dabei ist es nicht möglich, in so kurzer Zeit einschlägig qualifiziertes Fachpersonal zu rekrutieren. Entsprechend bleibt dem BAMF zur dringend erforderlichen Ausbildung des neuen Personals nicht die nötige Zeit. „Selbst wenn Sie mir als juristisch Vorgebildetem 3 Monate gäben, könnte ich das gesamte Rechtsgebiet nicht vollständig beherrschen“, sagte Prof. Graser.
„Ein Schelm wer da ans Wahljahr denkt.“
– Prof. Graser
So erscheint es nur logisch, wenn das Bundesamt insgesamt überfordert scheint. Diese harten Entscheidungen von Bleiben oder Abschieben fallen auch sicher nicht leicht. Wenn die getroffenen Entscheidungen dann nicht umgesetzt werden – noch immer können bei weitem nicht alle angeordneten Abschiebungen tatsächlich durchgeführt werden – stellt sich bei den Entscheidern wohl ein Gefühl von Frustration ein. Sie fühlen sich als Sündenbock und von der Politik allein gelassen.
Der Bug ächzt
Zusammenfassend, sagte Prof. Graser, hätten wir derzeit eine Überlastung der Verwaltung und systematische Rechtsbrüche in bisher ungekanntem Ausmaß. Gleichzeitig sei die Öffentlichkeit größtenteils uninformiert über diese Vorgänge, da die relevanten Informationen nicht beim Bürger ankämen. „Wir können aber nicht wegschauen, wenn wir mitbekommen, dass sehenden Auges geltendes Recht ignoriert wird“, mahnte Graser. „Wenn wir finden, dass Asylbewerber weniger Rechte haben sollten, dann sollten wir das offen sagen und nicht heimlich tun.“ Der Rechts- und Sozialstaat tut sich schwer mit der Masse an Geflohenen menschlich umzugehen. Das Schicksal Einzelner wird zu einer Zahl reduziert, die es nach Ansicht vieler Politiker ebenfalls zu reduzieren gilt.
Während das kleine Boot vor der Yacht langsam untergeht, sollten sich die Menschen in den Liegestühlen fragen, ob sie einfach nur zusehen oder nicht vielleicht doch einmal aufstehen und anderen Menschen die rettende Hand reichen wollen. Nicht zuletzt wurde an Bord immer wieder der Ruf nach christlichen Traditionen laut.
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