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Chios – eine griechische Insel als Zufluchtsort

Von Stefan Morling


Vorwort

Disclaimer: Dieser Bericht entstand über ein Jahr nach meiner Rückkehr aus Griechenland. Er enthält darum nicht alle, dafür aber besonders die bleibenden Eindrücke der Zeit vom 06.-19.06.2016.

Am 20.03.2016 trat der sogenannte EU-Türkei-Deal in Kraft. Wahrscheinlich bescheinigt die Mehrheit der Dokumente, die mir in zwei Wochen zu Gesicht gekommen sind, den 21.03. als Ankunftsdatum auf der (eigentlich traumhaften) Insel Chios. In den Lagern der Insel leben mehrere tausend Menschen. Sind sie alle an einem Tag angekommen? Wohl ja. So wird allerseits berichtet, dass man mehrere Tage auf dem Meer festgehalten wurde, ehe man auf die Insel gebracht wurde. Doch oft habe ich in diesen zwei Wochen keine Ahnung, ob ich glauben kann, was mir gesagt wird. Ich hoffe, die Welt ist nicht so schrecklich. Mir ist es nicht möglich zu sagen, wer Gut und wer Böse ist.


Die Situation vor Ort

Um innerhalb von zwei Wochen so viele Informationen wie möglich zu bekommen, möchte ich auch die Situation in der Türkei betrachten und fliege darum nach Izmir. Flüchtlinge prägen das Stadtbild. Auf dem Weg in die EU kommen die meisten Flüchtlinge durch diese Stadt. Hier wird das Geld für die Überfahrt erarbeitet. Wie ist die Rolle der Türkei in dieser Situation einzuschätzen? Wie die Rolle der türkischen Zivilbevölkerung? Immer wieder höre ich: „Was sollen wir denn noch tun?“


In der Tat ist der Türkei zunächst einmal Beeindruckendes gelungen. Selbst von Flüchtlingen hört man Gutes über ihr Transitland bzw. Gastland. Auf der anderen Seite sind dort zahlreiche Berichte über Ausbeutung, Menschenhandel und über den Schusswaffengebrauch an der türkisch-syrischen Grenze. In den kommenden Monaten werden griechische Behörden nahezu ausnahmslos entscheiden, dass die Türkei kein sicherer Drittstaat für Flüchtlinge ist.


Ich reise weiter nach Westen Richtung Çeşme.


Von der Küste ist die griechische Insel Chios ganz nah zu sehen. Flüchtlinge nehme ich in der Stadt jedoch nicht wahr. Möglicherweise soll kurz vor dem „Ziel“ kein Risiko eingegangen werden. Die lebensgefährliche Überfahrt kostet Gerüchten zufolge 1000€. Ich bezahle 17€ und bin in 40 min mit der Fähre in Chios. Weil ich an einem anderen Ort geboren wurde.

Die beiden Flüchtlingslager in der Stadt Chios befinden sich unmittelbar am Hafen und sind „wild“ entstanden. Ursprünglich war nur ein Containerdorf auf einem Fabrikgelände im Landesinneren geplant, 3km von der nächsten Ortschaft entfernt. Viele Flüchtlinge konnten die Abschottung nicht ertragen und machten sich auf den 10 km langen Weg ans Meer. Die daraus entstandenen Lager sind unser Arbeitsplatz.


Die Aufgabe und deren Probleme

Unsere Aufgabe ist die Vorbereitung der Flüchtlinge auf ihr „Vor-Asylverfahren“. Die griechischen Asylbehörden entscheiden aufgrund einer europarechtlichen Richtlinie, ob die Türkei ein sicherer Drittstaat ist (Parallelvorschrift im deutschen Recht ist § 29 Absatz 1 Nummer 4 AsylG).


Das Problem: Auch im Juni 2016, drei Monate nach Inkrafttreten des Abkommens ist über kaum ein Verfahren entschieden. Es macht sich der Eindruck breit, dass die Flüchtlinge allein vom europäischen Festland ferngehalten werden sollen. Nur wenige Beamte stehen zur Verfügung. Im Flüchtlingslager befinden sich einige Personen, deren Familienangehörige bereits in einem EU-Land als Flüchtlinge anerkannt wurden. Das bedeutet: Diese Personen haben einen Anspruch auf einen Aufenthaltstitel im gleichen Land wie ihr Ehemann oder ihre Ehefrau. Aufgrund der überlangen Verfahren haben sie sich jedoch selbst auf den Weg gemacht und sind nun auf Chios gestrandet.


Eine Botschaft zur Antragstellung ist hier auch nicht erreichbar. Die deutsche Botschaft in Athen weigert sich zunächst sogar, Termine an die Nachziehenden zu vergeben. Besonders absurd: Aufgrund der Dublin-Verordnung ist ohnehin Deutschland für den Asylantrag dieser Ehegatten zuständig. Es existieren also zwei Rechtsgrundlagen für den Nachzug, aber die Personen sitzen seit über drei Monaten in Zelten mit äußerst rudimentärer (vor allem hygienischer) Ausstattung. Ein Ehegatte besucht sogar seine Frau. Natürlich muss er sich bald wieder von seiner Frau verabschieden, er besitzt kein dauerhaftes Aufenthaltsrecht für Griechenland. Natürlich kann auch nicht jeder seine Familienangehörigen überhaupt besuchen. Dennoch ist man angesichts dieser Situation fassungslos. Wir werden im Nachhinein erfahren, dass das Überstellungsgesuch noch einmal ein Jahr in Anspruch nehmen würde.


Wohlgemerkt: Hier geht es um das eine Prozent der Flüchtlinge, die engste Familienangehörige in einem anderen EU-Land haben. Für die anderen ist selbst die äußerst langfristige Zukunft ungewiss. Zunächst droht die Überstellung in die Türkei. Angesichts der Zustände im Lager, auch in Bezug Sicherheit – so kommt es täglich zu Diebstahlsdelikten – ist es schwer vorstellbar, dass es in der Türkei noch schlimmer ist. Diese Kriminalität erklärt sich nicht allein durch die extreme Enge im Lager, sondern auch vor allem dadurch, dass Geld der einzige Weg ist, dieser Lage schnell zu entkommen, sofern es überhaupt einen gibt. In der Türkei fürchtet man jedoch unmittelbar um sein Leben. Die griechischen Behörden und das Europäische Asyl-Unterstützungsbüro EASO nehmen sich viel Zeit für jeden einzelnen Fall, was auch die Länge der Verfahren zum Teil erklärt. Mir ist kein Fall bekannt, in dem für einen Flüchtling die Türkei als sicherer Drittstaat bestätigt wurde. Aus der Presse ist mir jedoch bekannt, dass bei schwerer Kriminalität Überstellungen in die Türkei stattfanden. Das mag für das Zusammenleben im Lager nötig gewesen sein, rechtlich kann ich es nicht erklären – Kriminelle gehören nach meinem Verständnis ins Gefängnis.

Auswirkungen auf Griechenland als Transitland

Auch für die griechische Bevölkerung ist die Situation dramatisch. So sind die Touristenzahlen auf der Insel nach Angaben Einheimischer um mehr als die Hälfte zurückgegangen – dabei ist es wegen der Konzentration an drei Orten auf 90 % der Insel unmöglich, auf einen Flüchtling zu treffen. Diese wirtschaftlichen Auswirkungen führen bei den meisten Griechen zu Ablehnung. Eine historische Anekdote hörten wir jedoch von einem einheimischen Touristenführer. Sein Geschäft leide jetzt, jedoch kann Geschichte auch anders verlaufen: So sind seine Vorfahren aus Kapadokien 1922 vor dem türkischen Befreiungskrieg – ausgerechnet nach Syrien – geflüchtet. Die gegenwärtige Situation sei deshalb zu akzeptieren.


Es kommt jedoch auch zu (im Grundsatz völlig legitimen) Demonstrationen vor dem Flüchtlingslager durch die griechische Partei Goldene Morgenröte, die in Deutschland als rechtsextrem gilt. Problematisch ist dabei, dass die Flüchtlinge in Griechenland kaum von den Medien wahrgenommen werden. Darum sind stets viele Menschen auf beiden Seiten an einer Eskalation interessiert. Während meines Aufenthalts kommt es jedoch nur zu kleinen Rangeleien.


Schlussgedanken

Unser Team besteht aus Juristen aus ganz Deutschland. In der Kürze der Zeit können wir Aufklärungsarbeit betreiben und das Verfahren erklären. Die meisten Flüchtlinge wollen natürlich über ihre Verfolgung in Syrien und Afghanistan berichten, die jedoch in diesem Verfahren zunächst außer Betracht bleibt.


Ich fürchte, wir können die Verfahren nicht beschleunigen.

Große Freude empfinde ich angesichts der großen Anzahl von Flüchtlingshelfern. So können gesunde Lebensmittel und Sport für die Kinder angeboten werden. Einige Teams reinigen die Strände von Überbleibseln der Ankünfte (z.B. von Schlauchbootresten). Unter diesen befindet sich sogar ein spanischer Fußballprofi aus der Primera Division, der eine Verletzungspause für die Arbeit in Griechenland nutzt und keine Medienaufmerksamkeit will. Ich hoffe, dass viele Millionäre diesen Demut aufbringen. Auch unter den Flüchtlingen kam es zu einer Rollenverteilung: Es wurde versucht, einen halbwegs normalen Schulunterricht einzurichten. Dies ist notwendig, zeigt jedoch die Einsicht, dass es ein langer Aufenthalt wird.


Das gelobte Land ist nicht mit der Ãœberquerung der EU-Grenze erreicht.

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